Jorge Luis Borges

Das unerbittliche Gedächtnis

(...)

Wir nehmen mit einem Blick drei Gläser auf einem Tisch wahr; Funes alle Triebe, Trauben und Beeren, die zu einem Rebstock gehören. Er kannte genau die Formen der südlichen Wolken des Sonnenuntergangs vom 30. April 1882 und konnte sie in der Erinnerung mit der Maserung auf einem Pergamentband vergleichen, den er nur ein einziges Mal angeschaut hatte, und mit den Linien der Gischt, die ein Ruder auf dem Río Negro am Vorabend des Quebracho-Gefechtes aufgewühlt hatte. Diese Erinnerungen waren indessen nicht einfältig; jedes optische Bild war verbunden mit Muskel-, Wärmeempfindungen usw. Er konnte alle Träume, alle Dämmerträume rekonstruieren. Zwei- oder dreimal hatte er einen ganzen Tag rekonstruiert; nie war er über etwas im Zweifel gewesen, aber jede Rekonstruktion hatte einen ganzen Tag beansprucht. Er sagte mir: "Ich allein habe mehr Erinnerungen, als alle Menschen zusammen je gehabt haben, solange die Welt besteht." Und weiter: "Meine Träume sind wie euer Wachen." Und schließlich, gegen Morgengrauen: "Mein Gedächtnis, Herr, ist wie eine Abfalltonne." Ein Kreis auf einer Schiefertafel, ein rechtwinkliges Dreieck, ein Rhombus sind Formen, die wir vollkommen wahrnehmen können; ebenso erging es Funes mit der zerzausten Mähne eines Pferdes, mit einer Viehherde auf einem Hügel, mit dem wandelbaren Feuer und der unzählbaren Asche, mit den vielen Gesichtern eines Verstorbenen während einer langen Totenwache. Ich weiß nicht, wieviel Sterne er am Himmel sah.

All diese Dinge erzählte er mir; weder damals noch später habe ich sie in Zweifel gezogen. Damals gab es weder Film noch Phonographen; trotzdem ist es unwahrscheinlich, ja fast unglaublich, daß niemand mit Funes je ein Experiment gemacht hat. Tatsache ist, daß wir immerfort alles hinausschieben, was nur hinauszuschieben ist; vielleicht wissen wir alle zutiefst, daß wir unsterblich sind, und daß jeder Mensch früher oder später alles tun und alles wissen wird.

Funes' Stimme, aus dem Dunkel, sprach und sprach.

Er erzählte mir, daß er sich um 1886 ein eigenes Zahlensystem ausgedacht hatte. Er hatte es nicht niedergeschrieben, denn was er nur einmal gedacht hatte, konnte er nicht mehr vergessen. Den ersten Anstoß gab ihm, glaube ich, der Ärger über die Unbequemlichkeit, daß die berühmten "Drei und dreißig Uruguayer" zwei Ziffern und zwei Wörter brauchten, anstatt eines einzigen Wortes und einer einzigen Ziffer. Dieses verrückte Prinzip wendete er dann auf die anderen Zahlen an. Statt siebentausenddreizehn sagte er (zum Beispiel) Máximo Pérez, anstatt siebentausendvierzehn Die Eisenbahn. Andere Zahlen waren Luis Melián Lafinur, Olimar, Schwefel, die Zügel, der Wal, das Gas, der Kessel, Napoleon, Agustín de Vedia. Statt fünfhundert sagte er neun. Jedes Wort hatte ein eigenes Sinnbild, eine Art Merkzeichen; die letzten waren sehr kompliziert... Ich versuchte, ihm auseinanderzusetzen, daß diese Rhapsodie unzusammenhängender Begriffe genau das Gegenteil eines Zahlensystems sei. Ich sagte ihm, daß, wenn man dreihundertfünfundsechzig sagt, man drei Hunderter, sechs Zehner, fünf Einer nennt; eine Analyse, die in "Zahlen" wie der Neger Timeteo oder Fleischdecke nicht enthalten ist. Funes verstand mich nicht oder wollte mich nicht verstehen. (...)

aus: Lotterie in Babylon - Die schönsten Erzählungen. Ausgewählt von Fritz Arnold. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 1997.

Übersetzung: Karl August Horst und Gisbert Haefs.